Die Munitionsfabrik
Polte-Werke Magdeburg– Mutterkonzern und Tochtergesellschaften
Der Rüstungskonzern Polte-Werke oHG hatte seinen Stammsitz in Magdeburg und produzierte in 15 weiteren Fabriken in Deutschland. Die Einträge der Tochtergesellschaften erfolgten deshalb im Magdeburger Handelsregister. Eines der größten Tochterunternehmen der Polte oHG war die Grüneberger Metallgesellschaft mbH in Grüneberg an der Nordbahn. Vor ihrer Übernahme am 8.4.1931 existierte hier eine metallverarbeitende Betriebsstätte, größtenteils im Besitz der Berlin-Borsigwalder Metallwerke Löwenberg. Der Hauptproduktionszweig der Firma konzentrierte sich nun auf die Produktion von Infanterie- und 2cm Munition. Andere Bereiche des Betriebes waren die Kartuschhülsenfertigung und der Werkzeugbau.
(Quelle: Bericht des Gewerbeaufsichtsamtes vom 1.9.1944, BLHA, Pr. Br. Rep. 2 A, Regierung Potsdam IHG, Nr.49, Bl. 139)
Im Jahr 1940 war mit 144 Angestellten und 3.958 ArbeiterInnen ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Die Zahlenangaben der Betriebsprüfungsberichte lassen leider nicht erkennen, ob, und wenn ja, wie viele Kriegsgefangene und zivile ausländische Arbeitskräfte darin enthalten sind.
(Betriebsprüfungsberichte für die Grüneberger Metall, LHA Magdeburg, Rep. I 36 Polte oHG, Magdeburg, Nr.257/144 und 149)
Seit 1934 gab es reichseigene Werke, die von Polte im Auftrag der Regierung errichtet und aus Geheimhaltungsgründen unter den Namen Silva Metallwerk GmbH und Polte oHG betrieben wurden. Als Eigentümer bzw. Treuhänder war das Oberkommando des Heeres (OKH) eingetragen, das 1934 eingerichtet wurde und die höchste Kommandobehörde des Heeres war. Schon vor Abschluss des Pachtvertrags erhielt die Silva Metallwerk GmbH durch das Oberkommando des Heeres den vorläufigen Auftrag, Munitionsfirmen unter anderem auch in Grüneberg zu errichten. Die Hauptproduktion sollte in der Fertigung von Patronenhülsen bestehen. Munition wurde zunächst auf Vorrat produziert.
Quelle: Polte Werke: https://dewiki.de/Lexikon/Polte-Werke (23.06.2023)
Bild 1: Arbeitsbuch mit Betriebsstempel und Lehrbeginn am 1.4.1943 / Eigenarchiv
Bild 2: Technisches Zeichnen: konstruieren einer Granate / Eigenarchiv
Susanne Neumeyer schreibt dazu 2001 in ihrer Magisterarbeit (siehe unten): „Da das Unternehmen seinen formalen Sitz als Tochterfirma der Polte oHG in Magdeburg hatte, erfolgten dort auch die Einträge ins Handelsregister. Der Gesellschaftsvertrag zur Gründung der Grüneberger Metallgesellschaft mbH wurde am 8.4.1931 abgeschlossen.“ Die Verflechtung mit Reich und Heer beschreibt sie ab Seite 22, eine Zusammenfassung gibt es in ihrer Arbeit auf Seite 114.
Munitionsfabrik als Lehrbetrieb
Viele junge Männer fanden hier eine Lehrstelle. Sie wurden u.a. zum Werkzeugmacher und Maschinenschlosser ausgebildet. H.S. aus Grüneberg hat von 1939 bis 1942, dreieinhalb Jahre, den Beruf des Maschinenschlossers erlernt. Er erinnert sich: „Von der Lehrwerkstatt der Maschinenschlosser blickte man auf den See. Unten im Keller wurden die Werkzeugmacher ausgebildet.“
Bild 3: Unterrichtsraum des Lehrbetriebs / Eigenarchiv
Bild 4: Lehrling an der Werkbank / Eigenarchiv
Die Gebäude und ihre Funktionen
H. Schwarz aus Grüneberg erzählt: „Hier ist das Verwaltungsgebäude der Munitionsfabrik. Die drei linken Fenster unten, da wohnte der Direktor Roth. Und oben hat zuerst Schelenz gewohnt, und alles andere waren Büroräume. Das ist noch von der ersten Fabrik von 1898, solange steht das schon.“
Von den großen Fenstern seiner Wohnung konnte Firmenchef Franz Schelenz sowohl auf das Betriebsgelände als auch auf die Fläche des KZ-Lagers gegenüber schauen. Ihm blieb nichts verborgen, was dort auf dem Appellplatz geschah. Unten wohnte Produktionschef Alfred Roth. Die übrigen Räume wurden durch die Verwaltung genutzt.
Die Postkarte aus der Zeit zeigt hinter dem Verwaltungsgebäude eine große Fabrikationshalle, die Deutschlandhalle genannt wurde, und davor ein Pförtnerhaus am Haupteingang zur Fabrik. Heute kann man diesen Teil nur noch an den abgesenkten Bordsteinkanten des Bürgersteigs erkennen.
Das Gebäude mit seinem Hinterhaus und der Garage gehört heute der Firma Vivaris. Leider wird das Ensemble mit seinen Anlagen nicht genutzt und ist dem Verfall preisgegeben, obwohl das Haupthaus von solider baulicher Substanz ist. Es steht in der Denkmalliste des Landkreises Oberhavel (dort wird als Erbauungsjahr allerdings erst das Jahr 1935 angegeben).
Bild 5: Ausschnitt einer Postkarte mit Verwaltungsgebäude und Produktionshalle / Privatarchiv: H. Schwarz
Bild 6: Ehemaliges Verwaltungsgebäude und Chefwohnung (Gebäude heute leerstehend) / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Lageplan 1:1000 von dem Gelände der Grüneberger Metallgesellschaft m.b.H. in Grüneberg (Nordbahn)
Nach dem Krieg aus der Erinnerung beschriftet:
Bild 7: Lageplan vom Gelände der Fabrik mit Erläuterungen / Gedächtnisskizze nach dem Krieg / Archiv Vivaris in Grüneberg
Erläuterungen zu den einzelnen Gebäuden:
1 Große Halle (Pressen, Stanzen von Patronenhülsen, Galvanik, Pulverladerei) angebaut Heizhaus
2 Lokschuppen, Schmiede
3 Bürogebäude
5/7 Kleine Kokerei mit Kühlturm/Wasserwerk
8 Patronenkomplettierung (Pulverladerei)
12 Verwaltung (später Arztpraxis u.ä.)
13 Pförtnerei
5/10/15 Schießstand (zum Teil unterirdisch)
15 Pulverlager
20 Betriebshandwerker
17/22 Benzin/Öl/Lösemittellager
23 sog. Deutschlandhalle (Hülsenlackierung, Pulverladerei, Komplettierung der Geschosse)
24 Luftschutzräume, Büro- und Sozialräume, Betriebsfeuerwehr, Werkzeugmacherei, Metallbe- und -verarbeitung wie Härten, Bohren, Fräsen, Drehen, Metallager
27 Magazin für sonstige Materialien
100 Kläranlage für Abwässer
104/107 Bunker für Phosphor
108 Pulverlager
110 Lager für Lacke und Farben
111 Büros/Sozialräume
112 Pulverlager
117 Pulverlager evtl. Phosphor
Die übrigen Gebäude dieses Teils dienten der Herstellung von 20-mm-Munition, vermutlich war im Gebäude 114 ein großes Labor untergebracht.
200 Lager/Sozialräume/Luftschutz
201 Verarbeitung von Phosphor
202 Verarbeitung von Pulver
203 Bleiverarbeitung
204 Büros/Sozialräume
205 Trafostation
206 Wasserwerk
Anlagen außerhalb des Betriebsgeländes - die Munitionsbunker
Etwa einen Kilometer nördlich des Ortes kaufte die Polte AG eine Fläche von 15 ha Größe mit dem Flurnamen "Hohes Feld". Ein Teil des Geländes befand sich im Wald, dem sogenannten "Kienhaidchen". Es wurden 2 bis 2,5 Hektar eingezäunt. Hier standen, gut versteckt, fünf massive Betonbunker und leichte Holzbunker, in denen gut bewacht hochexplosive Zündhütchen, Zünder und Pulver gelagert wurden. Der Grüneberger Zeitzeuge H. S. (Jahrgang 1924) erzählt: „Wenn Hochbetrieb war, ist da Tag und Nacht das Pferdefuhrwerk gefahren und hat dann hier das Pulver geholt und zur Fabrik gebracht. Die durften nur immer für einen Tag Pulver in der Fabrik haben, es war zu gefährlich sonst. Das Pulver wurde in Holzkisten transportiert. Das Fuhrwerk hatte Wilhelm Richter in der Lindenstraße. Auch Mielenz, all die kleinen Bauern, die nicht so viel Acker hatten. - Es gab einen Winter, da hatten wir drei viertel Meter hoch Schnee. Da mussten wir sechs Wochen lang von der Fabrik bis hierher durchs Dorf durch einen breiten Weg schippen. Wir waren ja siebzig Lehrlinge.“
Bild 8: Blick in den Bunkerraum
Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Bild 9: Wanddicke des Bunkers
Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Bild 10: Blick auf einen Bunker
Foto: B. Dietz
Bild 11: Eingangsbereich / Foto: B. Dietz
Bild 12: Bunker von beiden Seiten begehbar / Foto: B. Dietz
Bild 13: Drei weitere Bunker / Foto: B. Dietz
Zwischen Fabrikhalle und Verwaltungsgebäude stand etwas zurückgesetzt ein Einmannluftschutzbunker (auch Splitterschutzzelle genannt). Die Einmannluftschutzbunker wurden während des Zweiten Weltkrieges im Deutschen Reich errichtet. Es gab sie unter anderem in Versorgungseinrichtungen der Wehrmacht, an Bahnanlagen und in Fabriken. So eine Kabine bestand aus Stahlbeton und konnte ein bis zwei Personen vor querschießenden Splittern und Geschossen schützen. Der Bunker konnte durch eine verriegelbare Betontür betreten werden und war mit Sehschlitzen ausgestattet. Er diente dem Wachmann bei Fliegeralarm als Schutzraum, denn auch in Grüneberg patrouillierten Wachposten um das mit Stacheldraht umzäunte Betriebsgelände.
Das Betonhäuschen war nach dem Krieg noch lange ein attraktives Spielobjekt für die Kinder des Dorfes und wurde beim Bau der großen Halle für die Mineralwasserfabrik in einen großen Erdwall verschoben.
Auf dem Fabrikgelände wurde ein Schießstand errichtet, der für die Erprobung von Munition genutzt wurde. Die Schießwand existiert heute noch.
Bild 14: Ehemalige Schießwand der Munitionsfabrik / Foto: B. Dietz
Bild 15: Reste des Einmannluftschutzbunkers (Splitterschutzzelle) / Foto: anonym
Grüneberger Rüstungsprodukte
In den Polte-Werken wurden alle Sorten von Pistolen- und Infanteriemunition mit Ausnahme der Kleinkaliber-Munition hergestellt. Des Weiteren wurde auch 20-mm-Munition komplett produziert. Vom Oberkommando des Heeres wurden folgende Materialien angewiesen: Schwarzpulver, Zündhütchen und Zünder.
Die Fertigungsabteilungen: Infanteriemunition, 2-cm-Patronen-Fertigung, Kartuschhülsenfertigung und Werkzeugbau. Die Häftlinge wurden für unterschiedliche Arbeiten in diesen Bereichen eingesetzt. Da die Produktion der Firma geheim war, durften die Häftlinge nicht wissen, was genau sie produzierten.
Bild 16: Originale Munitionskiste / Eigenarchiv
Bild 17: Aufkleber auf der Munitionskiste
Bild 18: Zwei originale Munitionskisten aus der Grüneberger Fabrik / Eigenarchiv
Die Munition wurde mit einem Herstellercode im Buchstabensystem versehen. 1940 wurde diese Codierung in einen bis dreistelligen Buchstabencode geändert, der bis zum Ende des Krieges verwendet wurde. Das Werk in Grüneberg verwendete den Code auy = Polte OHG, Werk Grüneberg (Nordbahn). Originale Patronen und Patronenschachteln aus der Zeit konnten erworben werden und befinden sich im Archiv der Initiative.
Bild 19: Hülsenboden der Patrone mit Bodenstempel auy / Eigenarchiv
Bild 20: Originale Patronen aus Grüneberg / Eigenarchiv
310 abgefeuerte, in Deutschland hergestellte Patronenhülsen wurden an einer Massenexekutionsstätte gefunden:
Kurze Erläuterung:
310 abgefeuerte Patronenhülsen, zusammen mit der zeitgenössischen archäologischen Tasche, die zu ihrem Transport verwendet wurde, wurden 2005 von Yahad-In Unum an einer Massenhinrichtungsstätte in Khvativ, einem kleinen Dorf in der Provinz Lemberg in der Ukraine, geborgen. Eine Hülse enthält Treibmittel und Zündkapsel und hält das Geschoss an Ort und Stelle. Auf einigen Gehäusen befindet sich ein Kopfstempel mit Angabe des deutschen Herstellers, des Standorts, des Jahres, der Charge und des Materials. Im September 1939, nach dem deutschen Überfall auf Polen, wurde die Woiwodschaft Lemberg gemäß den Bestimmungen des deutsch-sowjetischen Paktes von der Sowjetunion besetzt. Ende Juni 1941 startete Deutschland die Operation Barbarossa, einen Überraschungsangriff auf Russland. Der militärische Angriff wurde mit Tötungskommandos koordiniert, deren Ziel die Endlösung, die Vernichtung aller Juden aus den eroberten Gebieten, war.
Mit der Unterstützung geschulter Mitarbeiter und der örtlichen Bevölkerung wurde das Ziel durch Abschiebung erreicht Verbindungen zu Tötungszentren und Massenhinrichtungen in der gesamten Region. Der Mangel an ausreichenden Schienentransportmitteln führte dazu, dass es in vielen Dörfern Tötungsfelder gab, auf denen die Juden erschossen und zusammen mit den Kugeln und anderen Beweismitteln in riesigen Gräben begraben wurden. Durch Interviews mit den verbleibenden Augenzeugen lokalisiert und dokumentiert Yahad-In Unum diese Überreste eines Holocaust durch Kugeln und bietet respektvolles Gedenken an die Gefallenen.
Gefunden: Massenexekution und Grabstätte; Chwativ (Ukraine)
Verwendung: 1941, Juni-1942
Fundort: 17. August 2005
Objekt | Zugangsnummer: 2010.443.13
Physische Beschreibung:
Die Buchstabenbestandteile in diesem Datensatz dienen ausschließlich Katalogisierungszwecken.
310 abgefeuerte, zylindrische Patronenhülsen aus Messing mit deutlichem orangefarbenem Rost und Korrosion sowie einem Grat am unteren Rand. Ihre Größe variiert von Fragmenten über teilweise intakte bis hin zu 11 intakten Gehäusen mit einer durchschnittlichen Länge von 2,250 Zoll und einem Durchmesser von 0,500 Zoll. Die meisten sind explodiert und einige weisen Metallreste in der Mitte auf. 6 Gehäuse haben auf der Unterseite einen im Uhrzeigersinn eingravierten Kopfstempel; Bei 12 Uhr steht der Herstellercode mit dem Buchstaben P und Zahlen oder einer Buchstabenfolge, bei 3 Uhr steht S* für einen Messingsockel, bei 6 Uhr steht die Chargennummer und bei 9 Uhr ist das Jahr.
PS* 14 38 [Deutscher Hersteller]
P1[?]0 S* [?] 36 [Deutscher Hersteller]
P154 S* 31 35 [Polte Armaturen- und Maschinenfabrik AG, in Grüneberg, Deutschland]
Bild 21: Patronen der Polte Werke, hergestellt in Grüneberg /
Sammlung des United States Holocaust Memorial Museum, Geschenk von Yahad-in Unum
Biografie:
Pater Patrick Desbois ist Präsident von Yahad-In Unum (Together as One), einer Organisation, die er 2004 mitgegründet hat, um die christlich-jüdische Verständigung zu entwickeln und zu fördern. Er ist außerdem römisch-katholischer Priester und Leiter des bischöflichen Komitees für die Beziehungen zum Judentum, das mit der französischen Bischofskonferenz verbunden ist.
Pater Desbois wurde 1955 in Chalon-sur-Saone, Frankreich, geboren und wuchs auf einem Bauernhof in der Bresse-Region im Osten Frankreichs auf. Als junger Mann trat er in den französischen Staatsdienst ein und unterrichtete Mathematik in Westafrika. Er ging für drei Monate nach Kalkutta, um mit Mutter Teresa zu arbeiten. Danach entschloss er sich, dem Priestertum beizutreten, eine Entscheidung, die seine weltliche Familie schockierte. Er wurde Pfarrer, studierte Judentum und lernte Hebräisch. Er bat darum, Öffentlichkeitsarbeit mit Gruppen wie Roma, ehemaligen Häftlingen und Juden zu leisten, und wurde zum Verbindungsmann mit der jüdischen Gemeinschaft ernannt Gemeinschaft in Frankreich.
Seine Familie hatte während der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg vom 25.06.1940 bis zum 25.08.1944 auf dem Bauernhof gelebt. Sein Großvater väterlicherseits war als Soldat der französischen Armee nach der Besetzung von den Deutschen deportiert worden. Er wurde in das Gefangenenlager Rava-Ruska gebracht, damals auf der ukrainischen Seite der polnischen Grenze, heute in der Ukraine. Sein Großvater sprach nie über seine Erfahrungen, aber er sagte einmal zu seinem Enkel, dass es für französische Kriegsgefangene so schlimm sei, für andere Häftlingstypen jedoch noch viel schlimmer sei. Ein Cousin mütterlicherseits, der Mitglied des Widerstands gewesen war, wurde deportiert und in einem deutschen Konzentrationslager getötet. Als Erwachsener erfuhr er von seiner Mutter, dass die Familie oft Mitglieder der französischen Résistance auf dem Bauernhof versteckt hatte.
Desbois wurde vom Schweigen seines Großvaters verfolgt. Er unternahm wiederholte Reisen nach Rawa-Ruska, wo sein Großvater inhaftiert war. Bei einem Besuch brachte ihn der Bürgermeister an den Waldrand, wo sich eine Gruppe älterer Dorfbewohner versammelte, um ihm zu erzählen, was sie gesehen hatten. Desbois erfuhr schließlich, was sein Großvater nicht sagen wollte – dass die Morde, anders als Desbois angenommen hatte, nicht im Geheimen verübt wurden. Es waren öffentliche Spektakel, die am helllichten Tag aufgeführt wurden, und die Leute wollten dabei sein und zusehen. Seit 2001 leitet Desbois Forschungsteams, um das Schicksal jüdischer Opfer im nationalsozialistischen Deutschland aufzudecken, insbesondere der Einsatzgruppen, die während des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa operierten. Die Mission von Yahad-in Unum mit Sitz in Paris besteht darin, jedes Massengrab und jeden Ort zu entdecken, an dem Juden in der Ukraine getötet wurden. Sie recherchieren und vergleichen Dokumente aus deutschen und sowjetischen Archiven und suchen nach Hinweisen auf die Orte, an denen die Morde stattgefunden haben. Anschließend reisen sie in die Dörfer, um Zeugen zu finden, die ihnen den Ort der Massengräber verraten. Yahad hat über 800 von geschätzten 2000 Standorten identifiziert. Pater Desbois sucht auch nach Hunderten der verbliebenen Zeugen der Gräueltaten und hat deren persönliche Aussagen aufgezeichnet. Bis 2015 hatten sie 4000 Zeugenaussagen erfasst. „Zuerst glauben die Leute manchmal nicht, dass ich Priester bin. Ich muss einfache Worte verwenden und mir diese Schrecken anhören – ohne jedes Urteil. Ich kann auf die Schrecken, die mir entgegenströmen, nicht reagieren. Wenn ich reagiere, werden die Geschichten aufhören.“
Yahad–In Unum wurde 2004 gegründet, um das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Juden zu erleichtern. Der Name der Organisation basiert auf den hebräischen und lateinischen Wörtern für zusammen. Der zentrale Forschungsauftrag besteht darin, die Massenhinrichtungen von mehr als 2 Millionen Juden und Tausenden Roma in Osteuropa zwischen 1941 und 1944 durch Nazi-Deutschland und diejenigen, die mit ihnen kollaborierten, zu dokumentieren. Durch die Untersuchung dieses Holocaust durch Kugeln hat Yahad-In Unum Hunderte von Massengräbern ermordeter Opfer entdeckt und die Aussagen von mehr als 3000 Zeugen aufgezeichnet. Die Organisation sammelt Beweise, Dorf für Dorf, Region für Region, und sucht nach den letzten Zeugen dieser Verbrechen. Yahad-In Unum versucht, jede Grabstelle zu identifizieren, um diejenigen zu widerlegen, die den Holocaust leugnen, und um ein respektvolles Gedenken an die Gefallenen zu ermöglichen.
Quelle: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn42868
United States Holocaust Memorial Museum
Die Arbeitskräfte
Schon vor Kriegsbeginn wurden Wohnungen für fehlende deutsche Arbeitskräfte gebaut, auch in Grüneberg. In der Fabrik wurden leitende Mitarbeiter und Stammarbeiter und -arbeiterinnen benötigt, die es in der dörflichen Bevölkerung nicht gab. Es wurden Wohnungen gebraucht, und die Betriebsleitung beauftragte die "Kurmärkische Kleinsiedlungs GmbH" mit dem Bau von 60 Wohnungen. Damit sollte der Personalbestand sichergestellt werden.
Die Siedlung wurde am anderen Dorfende, nordöstlich der Fabrik, errichtet.
Davon berichtet auch Lehrer Tiede in seiner Chronik (siehe unten)
Viele unverheiratete junge Frauen aus der Region wurden in der Fabrik dienstverpflichtet. So zum Beispiel Betty Zipprich. Tochter Babette von Sauberzweig erzählt 2020:
„Meine Mutter erinnerte sich, wie die Wachfrauen mit ihren Peitschen und langen schwarzen Stiefeln die Frauen zur Arbeit in der Munitionsfabrik wirklich peitschten. Sie wurden misshandelt, gedemütigt und gefoltert. Die Frauen, die dort unter unwürdigsten Bedingungen arbeiteten, saßen an den Maschinen, an denen Munition für Kriegswaffen gefertigt wurde, Geschosse, Granathülsen usw. Auch meine Mutter war dort dienstverpflichtet. Jede Frau hatte die Aufgabe, so schnell wie möglich und unter Beobachtung der VorarbeiterInnen das vorgegebene Pensum zu schaffen.
Ich weiß, dass meine Mutter Kartuschen füllen musste. Auch sie hatte Angst, wenn sie mit klopfendem Herzen die Kartuschen füllte und jede zweite ungefüllt in der Kiste landete.
Sie hat sich gedacht: Ich kann nicht viel tun, aber das kann ich tun, nämlich dafür sorgen, dass jedes zweite Geschoss nicht funktioniert. Ihre Angst spürte ich noch, wenn sie mir davon erzählte. Denn es bedeutete, wenn sie dabei entdeckt würde, ebenfalls wenigstens Straflager für Sabotage. Sie arbeitete dort, bis sie körperlich und seelisch so erschöpft war und krank wurde und ihr Hausarzt Dr. Glau aus Löwenberg ihr Arbeitsunfähigkeit bescheinigte. Sie musste dann in der Fabrik auf jeden Fall nicht mehr arbeiten. Dafür wurde sie dann in das Lager, in dem Kriegsgefangene untergebracht waren, in der Gastwirtschaft Streich, die damals die Inhaber von dem Gasthof „Zu den Drei Linden“ waren, eingeteilt. Dort hat sie kochen müssen und auch, wenn es nötig war, die Männer bei Arztbesuchen oder ähnlichen Gängen begleiten müssen, auch um zu übersetzen. Die Männer wurden entweder in der Fabrik oder auf den Bauernhöfen zur Zwangsarbeit verurteilt. Ich weiß, dass es auch dort bei Strafe untersagt war, privaten Kontakt zu haben. Es waren Kriegsgefangene aus Polen, Bulgarien, Rumänien, Frankreich und Jugoslawien.“
Bild 22: Ausschnitt eines Luftbildes vom 24.03.1945 der US Air Force mit Siedlung / Landesluftbildsammelstelle der Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg © GeoBasis-DE/LGB (1945) / dl-de/by-2.0
Bild 23: Siedlung Kienhaidchen in den fünfziger Jahren / Eigenarchiv
Auch ausländische ZivilarbeiterInnen, die man im Osten mit falschen Versprechungen geworben oder zwangsweise zur Arbeit nach Deutschland verschleppt hatte, und kriegsgefangene Soldaten kamen in Grünebergs Munitionsfabrik zum Einsatz (siehe unten im Exkurs).
Ab 1943 wurden an verschiedenen Standorten der Polte-Werke KZ-Häftlinge in der Produktion eingesetzt, Grüneberg war dabei zeitlich gesehen Vorreiter. Es war von Anfang an wohl geplant, auf der bereits erworbenen Fläche gegenüber der Bahn ein Außenlager zu errichten. Ein Architekt aus Berlin projektierte das Lager.
Es handelte sich um ein Außenlager des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, das von der Silva Metallwerk GmbH errichtet wurde und in dem etwa 1.700 Frauen untergebracht waren. In der ersten Zeit bekamen die Frauen die warme Mahlzeit vom Betrieb gestellt. Aber wer etwa aufgrund der schweren körperlichen Arbeit und unzureichender Ernährung entkräftet und krank wurde und somit nicht mehr arbeitsfähig war, wurde nach Ravensbrück zurückgeschickt, was einem Todesurteil gleichkam, und wurde durch eine gesündere und kräftigere Gefangene aus Ravensbrück ersetzt.
Dies geschah in der Privatwirtschaft unter Verantwortung der Polte AG.
„Am schlimmsten war es abends, wenn wir aus der Fabrik kamen, wenn sie Frauen für den sogenannten Himmeltransport auswählten. Dann prüften sie an dem Tor mit der Taschenlampe, welche schon so geschwächt waren, und sie wurden fürs Krematorium aussortiert. … Einmal ist eine Polin durch einen Zufall, weil ihre Holzschuhe kaputt waren, ein wenig zurückgeblieben, und man sagte, sie wollte flüchten, und sie fingen an, sie mitten im Lager zu schlagen, zuerst der Kommandant, dann die Aufseherinnen, besonders eine Blondine, die groß und die schlimmste von allen war, ganz mit Sadismus. Sie genossen es richtig, sie wollten dem Kommandanten gefallen, besonders diese eine, sie wollte dem Kommandanten gefallen, und schlugen diese Polin so zusammen, dass sie nur noch ein Blutklumpen war, und schmissen sie in den Bunker. Am nächsten Tag musste sie in die Fabrik gehen, sie wurde gezwungen, einfach in die Fabrik zu gehen. Danach erfuhren wir, dass sich der Chef der Fabrik beschwerte, dass er sagte, dass er die Arbeiter ganz brauchte und nicht solche.“
Dana Valic, Interview vom 25.08.2001 in Ljubljana mit Loretta Walz
Am 6.3.1943 meldete die Grüneberger Munitionsfabrik dem Potsdamer Rüstungskommando, dass 350 KZ-Häftlinge angekommen seien. Am 5.4.1944 waren es bereits 1.030 weibliche Häftlinge. Im Sommer 1944 sind nochmals größere Transporte von Ravensbrück nach Grüneberg erfolgt. Ab November 1944 blieb die Zahl von etwa 1.700 Frauen konstant.
In der Ausländerstatistik der Gemeinde Grüneberg/Nordbahn vom 01.12.1944 wurde die Anzahl der gemeldeten weiblichen KZ-Häftlinge erfasst (Ausländerstatistik der Gemeinde Grüneberg/Nordbahn vom 01.12.1944, Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen):
1.01.1944 1.030
1.11.1944 1.712
1.12.1944 1.712
1.03.1945 1.710
1.04.1945 1.703
Die Häftlinge kamen aus der Sowjetunion, Polen, Jugoslawien, Frankreich, Griechenland, Tschechoslowakei und den Niederlanden. Es gab auch deutsche Häftlinge.
Das KZ-Außenlager befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Rüstungsfabrik, getrennt durch die Bahngleise. Der Weg zur Arbeit führte vom Lagertor nach Norden über den Bahnübergang und dann an den Bahngleisen entlang in die Fabrik zu den jeweiligen Werkhallen. Der Weg durch den Tunnel wurde ihnen verwehrt. Die Häftlinge wurden von Aufseherinnen mit Hunden streng bewacht und mussten eilig im Marschtritt gehen. Sie durften nur geradeaus sehen, schon der kleinste Verstoß wurde als Fluchtversuch gesehen und bestraft. Sprechen war strengstens verboten.
In der Fabrik angekommen, mussten sie jeweils in zwölfstündigen Schichten sieben Tage in der Woche Zwangsarbeit leisten, von sieben Uhr morgens bis 19 Uhr abends bzw. von 19 Uhr abends bis um sieben Uhr morgens. Gearbeitet wurde zumeist im Akkord. Im Wechsel wurde eine Woche tagsüber und eine Woche nachts gearbeitet. Etwa um 12.00 Uhr begann eine fünfzehn- bis dreißigminütige Mittagspause.
Es gab einen halben bis einen Liter Gemüsesuppe, anfangs noch mit Kartoffelstückchen. Später wurde die Suppe ohne Fett gekocht und enthielt nur noch Rübenblätter oder Kohlrüben und Rote Beete.
„Für das Essen hatten wir weniger als 15 Minuten, wir bekamen ½ Liter Suppe aus Rübenblättern oder Kohlrüben, alles ohne Fett, und oft ungesalzen. … Nach dem Essen gingen wir zurück zur Arbeit, und arbeiteten bis 16 Uhr, bekamen dann das Abendessen in der Fabrik, das heißt, 200 Gramm Brot, später nur noch 150 Gramm, dann 120 Gramm und schließlich nur noch 100 Gramm Brot.“
Danuta Hilkner, Lundprotokoll, Zeugenaussage 53 vom 13.12.1945
„Wir aßen in der Fabrik zu Abend. Wir hatten sechs Minuten Zeit, um Abendbrot zu essen und unsere Schüsseln zu waschen. Wenn die Blockälteste Luba, eine ungewaschene Schüssel sah, zog sie einen ihrer schweren Holzschuhe aus und schlug damit die Schüsselbesitzer. Sie ließ Frauen mit blutigen Köpfen zurück. Sie trat und schlug sie manchmal gezielt in die Nieren. Sie war eine schreckliche Frau, eine Mörderin, die aufgehetzt von der Aufseherin und Oberaufseherin auf uns losgelassen wurde. Sie aß auch mit ihnen.“
Aniela Bodziochowa, Lundprotokoll, Zeugenaussage 181 vom 26.2.1946
Den Häftlingen war es nicht erlaubt, bei Bedarf auf die Toilette zu gehen. Während der Arbeitszeit gab es dafür zwei feste Zeiten.
Viel zu oft wurde die Mittagspause gekürzt oder das Essen entzogen.
Die Arbeit in der Munitionsfabrik war sehr anstrengend, schwer und gesundheitsschädigend.
„Die Arbeit fand in täglichen Zwölf-Stunden-Schichten statt, die unermesslich ermüdend und erschöpfend waren.“
Irena Wojciechowska, Lundprotokoll, Zeugenaussage 49 vom 12.12.1945
„Im Allgemeinen war die Behandlung schlecht, wir wurden geschlagen, durften nicht auf die Toilette gehen, die Mittagspausen wurden uns gekürzt, manchmal gab es auch Essensentzug, den die Aufseherinnen jedoch willkürlich verhängten, denn die Fabrikleitung verbat diese Strafe.“
Danuta Hilkner, Lundprotokoll, Zeugenaussage 53 vom 13.12.1945
Es kam oft zu Unfällen mit Phosphor, und es gab Tote und Verletzte beim Auseinanderschrauben alter Patronen.
Die Arbeitsgänge der Patronenfertigung umfasste das Fräsen und Stanzen der Hülsen. Dann wurden die Zündhütchen eingesetzt, das Treibmittel eingefüllt, das Projektil eingeschoben und die Patrone mit Hebeldruck verschlossen.
Am gefährlichsten war die Arbeit beim Abfüllen von Phosphorgeschossen. Für diese Arbeiten waren die KZ-Häftlinge vorgesehen. Viele Häftlinge erkrankten durch das Hantieren mit Säure.
„Wir mussten nun anfangen, mit der Munition zu arbeiten. Wir bekamen eine Waage und dazu einen kleinen rostfreien Becher, den wir dazu benutzen sollten, eine bestimmte Menge Pulver abzuwiegen*. Wenn man zuviel abwog, wurde man bestraft. Neben mir stand eine junge Russin, aber weil wir überhaupt nicht reden durften, sprachen wir auch nicht miteinander. Ihre Aufgabe war es, das, was ich abgewogen hatte, in so eine Art Hülse zu füllen. Sie packte dann die Patronen, die sie gefüllt hatte, in eine Kiste. Ich bemühte mich immer, alles richtig zu machen, denn ich wusste, dass der kleinste Fehler mich das Leben kosten könnte. Diese acht Patronen wurden dann einer anderen Frau gegeben, die Janka hieß und deren Aufgabe es war, diese Patronen in eine Maschine zu schieben, wo dann die Patronen für die spätere Anwendung fertig gemacht wurden. Hatte man mehr Pulver abgewogen, als man sollte, so zeigte die Maschine das dadurch an, dass sie anfing zu piepen. Es handelte sich dabei nur um einige Gramm, und so könnt ihr euch vorstellen, wie sehr man gezwungen war, genau zu sein. Täglich konnte ich vierzig bis fünfzig Patronen machen, und das musste man auch mit einem bestimmten Tempo machen, das heißt, nicht zu langsam.“
(Anmerkung: abwiegen* = abfüllen)
Leokadja Pawlakówna-Gunnarsson; Abhandlung von Sonia Denkiewicz
Quelle: Sonia Denkiewicz: Leokadja Pawlakówna - Der Bericht einer Überlebenden - https://dh-north.org/siberian_studies/publications/denkiewicz.pdf vom 05.02.2022
Die Aufgabe der Häftlinge bestand darin, zu kontrollieren, ob Patronen beschädigt waren.
„Beim Spritzen von Aceton auf die Hülsen war eine Zivilarbeiterin, die den Maschinenlauf beaufsichtigte. Meine Arbeit war nur, mit den Händen die Hülsen zu nehmen, sie auf das Brett mit den Löchern zu geben und diese Hülsen wieder auf ein anderes Band zu legen, so dass meine ganzen Finger davon immer blutig waren und ich dachte, dass ich nie wieder gesunde Finger hätte, weil an diesen Hülsen noch frische Feilspäne waren von der Herstellung.
Dana Valic, Interview vom 25.08.2001 in Ljubljana mit Loretta Walz, Privatbesitz Loretta Walz
Abschließend wurde kontrolliert, ob das Projektil innerhalb der Hülsen am vorgesehenen Platz und unbeschädigt war. Am Ende des Fließbands nahmen sie die fertigen Patronen vom Band, verpackten sie in Pappkartons und brachten sie zu einer Verpackungsmaschine. Abgepackt in Kisten verließen sie das Werk.
„Ich arbeitete an so einer Maschine - wissen Sie, die war wie ein Dorfbrunnen. An beiden Seiten war jeweils ein Schwengel. Dort drehten wir. Zu Beginn wurden die Platten mit den Kugeln* etwas höher gestellt. Dann wurden diese Platten herausgezogen. Die Kugeln fielen in die Patronen. Wir drehten dann so, dass die Kugeln dort hineingedrückt wurden. Wir holten sie heraus, schütteten sie in Kisten und brachten sie zu einem Automaten. Die Automaten hatten solche Kellen. Dahinein wurden aus den Kisten die Patronen geschüttet. Wenn sie den Automaten verließen, waren sie - ich kann es nicht genau erklären - jede Patrone war lackiert. Sie wurde deshalb lackiert, damit keine Feuchtigkeit eindringen konnte. Und diese Patronen fielen aus drei Automaten, die in einer Reihe standen, auf ein Fließband. Die Patronen liefen an eine Stelle, wo drei Mädchen gegenüber einem Spiegel saßen. Die Mädchen kontrollierten, ob die Patronen ganz waren. Dann liefen die Patronen auf dem Band weiter. Sie drehten sich irgendwie so, dass man sehen konnte, ob die Kapsel da war, ob sie nicht eingedrückt war. Und das letzte Mädchen, das dort saß, nahm sie vom Band und packte sie in Kisten. Ein anderes Mädchen kam mit einem Wagen und brachte die Kisten zu einem Automaten, der separat stand. Die Patronen wurden hingeschüttet und verließen den Automaten schon verpackt in Pappkartons. So war der Ablauf.“
(Anmerkung: mit Kugeln* sind Projektile gemeint)
Aleksandra Suiba, Interview in Ravensbrück am 11.09.1999 - aus der Sammlung: „Widerstand leben – Frauenbiographien“ von Loretta Walz, Privatbesitz Loretta Walz
Bild 24: Aufkleber der Patronenschachteln / Eigenarchiv
Bild 25: Patronen mit originalen Schachteln
Die Häftlinge arbeiteten meistens getrennt von den Zivilarbeitern in den Werkhallen. Kontakte mit anderen Gefangenen, Zivilarbeitern und Meistern waren grundsätzlich nicht erlaubt. Für die Kontrolle des Arbeitsablaufs waren die jeweiligen Meister zuständig.
Die Häftlinge wurden bei der Arbeit von den SS-Aufseherinnen bewacht und diszipliniert. Sie gingen durch die Hallen und achteten darauf, dass die Frauen unentwegt arbeiteten, nicht sprachen und nicht die Produktion sabotierten.
„Die Bewachung in der Fabrik: Die Begehung, die Aufseherin machte ständig eine Streife an den Maschinen und wir mussten aufpassen. Da war etwas, wenn eine sprach, wir mussten aufpassen, dass wir nicht..., weil wir an den Maschinen nebeneinander saßen. Wir durften miteinander nicht sprechen, sonst folgte dann die Strafe.“
Dana Valic, Interview vom 25.08.2001 in Ljubljana mit Loretta Walz, Privatbesitz Loretta Walz
„Die Kolonnenführerinnen waren während der Arbeitszeit bösartig, sie verprügelten ihre Mitgefangenen, denunzierten sie, und hielten zu den Aufseherinnen, unterschlugen auch das Essen.“
Danuta Hilkner, Lundprotokoll, Zeugenaussage 53 vom 13.12.1945
Doch manchmal war der Kontakt bei der Arbeit nicht vermeidbar, denn teilweise arbeiteten auch Zivilisten mit den Häftlingen, um diese anzuleiten. Auch diese trauten sich nicht mit den Häftlingen zu sprechen. Trotzdem gab es Kontakte zu den Häftlingen.
So nahmen ZivilarbeiterInnen heimlich Briefe der Häftlinge entgegen und verschickten sie, oder sie steckten den Häftlingen Lebensmittel zu, was ebenfalls strengstens verboten und sehr riskant war.
Bild 26: Deutschlandhalle - Feierlichkeiten zum 1. Mai / Eigenarchiv
Welchen Wahrheitsgehalt sollte man solchen Berichten beimessen? Sie sind mit Vorsicht zu genießen, denn es gibt wohl erwiesenermaßen mehr erzählte Mutgeschichten vonseiten der Zivilisten als vonseiten der Häftlinge. - Dennoch ist jede mutige Tat der Zivilcourage hoch zu schätzen:
„Es gab Kontakte zu den Zivilarbeitern, sie nahmen für uns Briefe zum Abschicken mit, manchmal bekamen wir auch Kleinigkeiten zu Essen, das alles war aber streng verboten. Die Fabrik selbst war auch für die Zivilbevölkerung eine Strafanstalt“
Danuta Hilkner, Lundprotokoll, Zeugenaussage 53 vom 13.12.1945
Fliegeralarm
In Grüneberg gab es häufig Fliegeralarm, weil britische und amerikanische Flieger über den Ort mit den Zielen Oranienburg und Berlin flogen. Das Werk und das Lager blieben von Bomben verschont.
Bei Fliegeralarm mussten die Werkhallen verlassen werden. Die Häftlinge gingen in die Bunker oder in die Splitterschutzgräben außerhalb des Geländes. Trotz der Gefahr waren die Frauen für jede Minute Fliegeralarm dankbar, weil sie dadurch den Arbeitsplatz verlassen konnten.
„Bei Fliegeralarm wurden in der Fabrik die Maschinen angehalten, und wir begaben uns in die Luftschutzgräben. Da es nicht genügend Gräben gab, wurde man in die vorhandenen hineingeschubst, und richtig hineingepresst. Das war schlimmer, als in der Fabrik zu sitzen. Im Sommer fielen Frauen in diesen Gräben in Ohnmacht, im Winter froren sie. Während des Fliegeralarms durfte sich niemand im Block aufhalten, gab es den Alarm in der Nacht, wurden wir nicht in die Gräben, sondern in die Keller unter der Fabrik getrieben, in einen Raum für 60 Personen, waren wir 200, oder sogar 300. Die Kellertür wurde verriegelt, im Keller war nicht genug Sauerstoff. Ich kann mich an einen Fall erinnern, als eine polnische Häftlingsfrau vor dem Fliegerangriff aus Übermüdung und Luftmangel in Ohnmacht fiel. Die Aufseherin befahl uns, sie im Laufschritt in den Luftschutzkeller zu bringen, weil sich während des Angriffs niemand in der Fabrik aufhalten durfte. In den letzten zwei Monaten bewegten wir uns nur im Laufschritt, wurden mit Geräten oder Knüppeln gestoßen, und in die auf dem Gebiet des Lagers ausgehobenen Gräben hineingepfercht, denn in den Gräben neben dem Fabrikgebäude durfte sich niemand verstecken. Die Aufseherinnen benutzten bei diesen Gelegenheiten gern ihren Gummiknüppel.“
Danuta Hilkner, Lundprotokoll, Zeugenaussage 53 vom 13.12.1945
Die Grünebergerin D.M. erinnert sich 2021 an Erlebnisse in ihrer Kindheit:
„Hier auf dem Tritt habe ich gestanden mit meiner älteren Schwester. Hier war alles noch Wald und nichts bebaut. Und wir haben rübergeguckt, hier drüben war der Schützengraben, der damals für die Frauen ausgehoben wurde. Und da sind die Frauen von der Munitionsfabrik aus hierhergekommen. Der Zaun war keine 200 m weiter, wo die Gartenstraße unten kommt. Und dort war ein großes Doppeltor, da sind die Frauen rausgetrieben worden hier rein. Immer wenn Alarm war, aber auch so. Damals war das noch ein Schotterweg. Wir haben da nur die grauen Kopftücher rausgucken sehen, das sah komisch aus, nur die wackelnden Köpfe da, da haben wir Kinder gelacht.“
Ende des Betriebes der Munitionsfabrik
Zwischen dem 22.4.1945 und dem 26.4.1945 wurden die Häftlinge auf unterschiedlichen Wegen nach Ravensbrück gebracht. Ende April 1945 besetzte die sowjetische Armee das Firmengelände der Grüneberger Metallgesellschaft mbH.
Bild 27: Bodenfund Granate übergeben an das Landesdenkmalamt für Archäologie Brandenburg
Bild 28: Bodenfunde Granaten / Privat anonym
Nach dem Potsdamer Abkommen der Siegerstaaten waren die Rüstungsfabriken zu demontieren, auch die Grüneberger. Einige Teile der Firma wurden gesprengt, im Sommer 1946 die Hauptanlagen, andere demontiert und Maschinen und Ausstattung abtransportiert. Nur die Gebäude des Erbhofs und einige Reste der Anlage blieben bestehen. Am 12.10.1948 wurde die Grüneberger Metallgesellschaft mbH aus dem Handelsregister in Magdeburg gelöscht.
Quelle: Das Außenlager des KZ Ravensbrück in Grüneberg und die Grüneberger Metallgesellschaft mbH - Ein Rüstungsstandort in der Spätphase des Zweiten Weltkrieges, Susanne Neumayer: Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Grades Magister Artium (M.A.) im Fach Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaften der Phil. Falkultät I der Humboldt-Universität: Susanne Neumayer Magisterarbeit
Exkurs: Vor- und Nachgeschichte der Munitionsfabrik Grüneberg
Über die Vor- und Nachgeschichte der Munitionsfabrik gibt ein heimatgeschichtlicher Bericht aus der Feder des Oberlehrers Gerhard Thiede aus Gransee Auskunft. Der Bericht ist angelegt als eine Betriebschronik. „Eine Materialsammlung als Beitrag zur Geschichte der Stadt und des Bereiches Gransee“, Anlage 3, Nr. 7, (unbekanntes Jahr), verfasst in der Denkweise und mit Begriffen der Zeit, erschienen in der Märkischen Volksstimme im September 1978:
Zur Geschichte der Fabrik in Grüneberg
Fremde Bahnreisende, die im ersten Drittel unseres Jahrhunderts die kleine Haltestelle „Grüneberg/Nordbahn“ passierten, mögen von verhältnismäßig großen Fabrikanlagen überrascht gewesen sein, die dicht neben der Strecke plötzlich auftauchten. Welchen Zweck hatten sie? Hier gab es weder Bodenschätze noch natürliche Energiequellen, keinen Eisenbahnknotenpunkt oder Verbindungen zum Wasserstraßennetz, noch nicht einmal eine „anständige“ Chaussee. Die wenigen Häuschen in der Nachbarschaft ließen kein Massenangebot von Arbeitskräften vermuten. Der beim Vorbeifahren gerade noch zu entziffernde Teil der Fabrikinschrift „...Metallwerke ...“ blieb rätselhaft, denn der ganze Komplex hatte keine Ähnlichkeit mit Anlagen der Metallindustrie. Konnte hier ein solcher Betrieb überhaupt bestehen? Der ökonomisch geschulte Reisende mag den Kopf geschüttelt und sich dem weiteren Zeitungsstudium der Börsenkurse gewidmet haben, ohne zu ahnen, dass seine Bedenken ungefähr der anfänglichen Wirklichkeit entsprachen.
Tatsächlich erwies sich die Grüneberger Fabrik zuerst als eine Fehlspekulation ihrer Gründer. Sie war zum Beginn unseres Jahrhunderts entstanden. Eine Wirtschaftskrise erschütterte das kaiserliche Deutsche Reich. Die Regierung erhöhte zugunsten der Junker und Großagrarier die Einfuhrzölle. Darauf stiegen die Preise für Lebensmittel und Verbrauchsmaterialien. Das Industrieproletariat kämpfte auf Protestmeetings und durch Streiks um eine Angleichung seiner Löhne und Verbesserung der Arbeitsverhältnisse, vor allem um die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstages.
Einige Kapitalisten glaubten, Schwierigkeiten zu umgehen, wenn sie ihre Produktion aufs Land verlegen würden. Grund und Boden waren dort billiger, die Löhne für ungelernte Kräfte niedriger, also mussten Anlagekapital und Betriebskosten geringer sein und der Profit höher. Außerdem hatte das Landvolk vermutlich keine Ahnung vom Klassenkampf, musste sich leichter regieren lassen als die „Großstadtsozis“, die ständig „stänkerten“. Solche Überlegungen veranlassten wohl einen Berliner Industriellen, kurz nach der Jahrhundertwende in Grüneberg Ländereien zu erwerben, um darauf eine Fabrik für Buntmetallverarbeitung zu errichten. Die „Märkischen Metallwerke C. Lehmann & Sohn“ nahmen 1902 ihren vollen Betrieb auf.
Bild 29: Postkarte mit Grüneberger Metallwerken / Eigenarchiv
Über die politische Haltung ländlicher Arbeiter täuschten sich die Unternehmer gründlich. Bereits am 19. November 1902 registrierte das Neuruppiner Landratsamt einen „Zweigverein der Deutschen-Metallarbeiter-Gewerkschaft“ (Quelle: Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep 6 B, Landratsamt Ruppin, Nr. 1622, Blatt 166) und noch vor 1905 ein „Sozialdemokratischer Wählerverein“ in Grüneberg (Quelle: Die sozialen und politischen Verhältnisse in der Provinz Brandenburg von 1871 – 1917, Potsdam 1967, Beiheft S. 44 f).
Die ungewohnte Fabrikarbeit, das Herstellen, Formen und Biegen schwer Kupfer- und Messingrohre in zehn- bis zwölfstündiger Arbeitszeit war für die Grüneberger eine unmenschliche Plackerei und wurde zudem erbärmlich vergütet. So konnte es nicht ausbleiben, dass sie bald Lohnforderungen erhoben. Die Unternehmer lehnten ab, und als die Grüneberger streikten, erhielten sie ihre Kündigungen und Arbeiter aus Sachsen die freien Arbeitsstellen. Die waren kampferfahrener und beanspruchten die Zahlung höherer, den Tarifen entsprechender Löhne, die der Betrieb wohl oder übel zu leisten hatte. Aber dadurch (und prinzipiell) machten sich die Streikbrecher unbeliebt und gaben Anlass zu Schlägereien. In Lohnfragen hatten die Unternehmer also falsch kalkuliert, und auch die Betriebskosten wurden weit höher als erwartet.
Damals besaß Grüneberg nur eine Haltestelle für Personenzüge. Alle Transporte an Rohmaterialien, Brennstoffen, Betriebsbedürfnissen und Fertigprodukten mussten per Pferdewagen über den nächstgelegenen Güterbahnhof Löwenberg (Reichsbahn) laufen (Wegstrecke: 8,5 km, Bahnstrecke 3,5 km). Das verlangte zusätzliche Arbeitskräfte, -mittel, -zeiten und -kosten.
(Quelle: Sabine Dölitzsch, „Die ökonomisch-geografische Struktur der Gemeinden Grüneberg und Falkenthal, Kreis Gransee - ein ökonomisch-geografischer Vergleich“; Staatsexamensarbeit 1965, Manuskript)
Der Betrieb wurde unrentabel. Die Firma Lehmann & Sohn erkannte ihre Fehlkalkulation und gab auf, obwohl dem Haltepunkt des Ortes nach dem zweigleisigen Ausbau der Nordbahn (in Grüneberg 1903/04) eine Güterabfertigung zugestanden worden war. Für den Fabrikbedarf genügte sie allerdings nicht.
Einige Jahre später versuchte ein anderes Unternehmen, die Produktion mit hydraulischen Pressen wieder aufzunehmen, hatte aber keine Dauererfolge. Als bleibendes Zeichen hinterließ es zur Vergrößerung der Betriebsanlagen einen Wasserturm.
Um 1914 erweckte die enorme Aufrüstung des deutschen Kaiserreiches die Grüneberger Fabrik zu neuem Leben. Als Zweigbetrieb der „Deutschen Schwiegerschen Metallpresswerke“ im Trust der „Berlin-Borsigwalder Metallwerke“ erhielt sie den Namen „Metallwerk Löwenberg“. Ihn symbolisierte auf der Bahnseite ein großes Emblem am Giebel der „Deutschlandhalle“ mit einem Löwen, der auf einem „Berg“ nach Beute spähte. Neben ihm lag eine Rose, die vielleicht auf den Heimatbahnhof des Stammwerkes „Reinickendorf-Rosenthal“ verweisen sollte.
(Quelle: Sabine Dölitzsch, „Die ökonomisch-geografische Struktur der Gemeinden Grüneberg und Falkenthal, Kreis Gransee - ein ökonomisch-geografischer Vergleich“; Staatsexamensarbeit 1965, Manuskript)
Anmerkung der Initiative KZ-Außenlager Grüneberg: Es gibt in Grüneberg ein Narrativ, nach dem die Frau des Firmengründers Lehmann, eine Jüdin, eine geborene Rosenstrauß gewesen sei, von derem Besitz die erste Fabrik finanziert worden sei. Sie hat öfter angedeutet, dass der Berg mit dem Löwen auf einem Rosenstrauch steht. Das war symbolisch als sei sie mit ihrem Geld die Grundlage des ganzen Unternehmens.
Dieses gilt es noch zu erforschen.
Der Betriebsteil Grüneberg presste Messingstangen bis zu einem Durchmesser von 80 mm zur Herstellung von Granat- und Bombenzündern aller Größen. Für Rüstungsbetriebe gab es keine Transportprobleme. Das Grüneberger Werk erhielt ein Anschlussgleis zur Nordbahn. Im Laufe des Krieges wurde Buntmetall knapp. Neben heimatlichen Kirchenglocken wanderten alle „konfiszierten“ (sprich: gestohlenen) Messinggegenstände der überfallenen Länder in die Schmelzöfen.
"Altkupfer und Altmessing kamen aus den besetzten Gebieten. Während des 1. Weltkrieges arbeiteten viele Kriegsgefangene aus Frankreich im Betrieb. Es waren meist Spezialisten und Facharbeiter. Unter dem Altmessing befanden sich viele alte Musikinstrumente, welche die Franzosen reparierten. Sie bildeten eine Laienmusikkapelle.“
(Quelle: Sabine Dölitzsch, „Die ökonomisch-geografische Struktur der Gemeinden Grüneberg und Falkenthal, Kreis Gransee - ein ökonomisch-geografischer Vergleich“; Staatsexamensarbeit 1965, Manuskript)
"Die Fahnenflucht des Deutschen Kaisers und die Kapitulation seines verlassenen Armeeoberkommandos, erste Folgen der November-Revolution in Deutschland, beendeten das Idyll und gaben den Franzosen die Freiheit wieder. Die Werkleitung wurde zur Produktionsumstellung auf den Friedensbedarf gezwungen. Sie griff auf die Rohrproduktion zurück und spezialisierte die Grüneberger Fabrik auf den Bau von Überhitzerschlangen für Lokomotiv- und Schiffskessel – selbstverständlich mit einer stark verkleinerten „Belegschaft“. Die durch „Verpulverung“ einst vorhandener Werte hervorgerufene Inflation minderte das Realeinkommen aller Werktätigen. Weil ihre Lohnforderungen abgelehnt wurden, streikten vom 12. November bis 8. Dezember 1919 in Grüneberg 189 Arbeiter. Da die Preise immer schneller und schneller stiegen, blieb ihnen ein realer Erfolg versagt." (Quelle: Staatsarchiv Potsdam, Rep 6 B, Ruppin, Nr. 1627, Bl. 494)
Die relative Stabilisierung der deutschen Währung durch Einführung einer „Rentenmark“ als Zahlungsmittel am 15. November 1923 verdarb den Unternehmern das gewinnbringende Devisengeschäft mit dem Ausland. Sie sahen sich veranlasst, den Betrieb weiter einzuschränken, ihren Werkteil in Grüneberg zu schließen und dessen Maschinen ins Hauptwerk Berlin-Borsigwalde umzulagern.
Stille herrschte auf dem Fabrikgelände, bis 1932 das Magdeburger Monopolunternehmen Polte die Grüneberger Anlagen übernahm und sie auf seine Produktion umstellte. Hitler hatte bekanntlich alle deutschen Großindustriellen über seine Expansionspolitik informiert, um für deren Verwirklichung Gelder und politische Hilfen zu erhalten. Die Magdeburger Konzernleitung erwartete deshalb großartige Profitmöglichkeiten. Der Gründer des Werkes, Eugen Polte, hatte nämlich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein „Kugelwalzverfahren“ erfunden zur rationellen Massenfertigung normgerechter Patronen- und Kartusch-Hülsen - gerade recht zur störungsfreien Funktion neuartiger „Maschinenwaffen“. Er verstarb bereits 1911 und erlebte nicht mehr, wie sich sein Werk während des 1. Weltkrieges zum größten Munitionsbetrieb des Deutschen Reiches entwickelte. Fast jede Patronenhülse und Kartusche, gleich welchen Kalibers, trug an ihrem Boden neben anderen Deklarationszeichen ein “P“ als Merkmal des Herstellers „Polte Werke“.
In zukünftigen „Großdeutschen Freiheitskriegen“ müsste der Munitionsbedarf gewaltig steigen. Deshalb plane die Konzernleitung „vorsorglich“ eine Erweiterung ihrer Produktionsanlagen und – in Anbetracht möglicher Luftangriffe – auch deren Dezentralisation und Maskierung. Dazu war die ländliche Grüneberger Fabrik bestens geeignet. Ein neuer Betriebsteil südlich der „Deutschlandhalle“ erhielt zur Tarnung die Gestalt eines größeren Bauerngehöftes. Man nannte ihn nach der Nazi-Terminologie den „Erbhof“, während der Wasserturm das Aussehen einer „Windmühle“ erhielt.
Zur „sicheren“ Unterbringung der mittleren leitenden Kader und Stammarbeiter ließ die Betriebsleitung zwei Kilometer nordöstlich des Werkes, am anderen Dorfende, durch eine „Kurmärkische Kleinsiedlungs GmbH“ aus Berlin sechzig Wohnungen errichten (in je 8 Einzel- und Reihen- sowie 22 Doppelhäusern). Für die Baukosten bzw. Verzinsung der Darlehen hatten die Untergebrachten selbst aufzukommen. Als die ersten 1936 einzogen, musste jeder als Anzahlung 350 RM aufbringen bzw. vom Lohn „abstottern“. Der zu verzinsende Gesamtwert betrug am 1.4.1938, als die Siedler (nach einer „Bewährungsfrist“) als Eigentümer eingetragen wurden, 5925 RM.
"Etwa ein Kilometer nördlich der Siedlung gehörte ein Landstück von etwa 15 ha Größe mit dem Flurnamen „Hohes Feld“ ebenfalls zur Grüneberger Fabrik. Auf ihm, im sogenannten „Kienheidchen“ wurden 2 bis 2,5 ha eingezäunt. Hier bevorratete das Werk in massiven Beton- und leichteren Holzbunkern hochexplosive Zündhütchen und Zünder. Später versorgte der freie Rest des „Hohen Feldes“, der als Betriebsgelände zu den ablieferungsfreien Flächen gehörte, die führenden Konzernbonzen mit zusätzlichen Lebensmitteln (wie bereits 1914 – 1918)."
(Quelle: Karl Gransee, Grüneberg, Stellungnahme zum Arbeitsentwurf mit Ergänzungen, 1973)
Mit dem Überfall auf Polen begann im September 1939 die Großproduktion des Werkes. Der Bedarf an Arbeitskräften stieg auf das Vielfache. Er wurde auf bewährte nazi-übliche Weise gelöst: Alle arbeitsfähigen, nicht zum Wehrdienst eingezogenen Männer, alle Mädchen und Frauen der nördlichen Orte (südliche gehörten vor allem zum „Einzugsbereich“ der Oranienburger Rüstungsbetriebe) erhielten „Dienstverpflichtungen“ nach Grüneberg. Bestehende andere Arbeitsverhältnisse galten als gelöst, sofern es sich nicht um „kriegswichtige“ Berufe bzw. Beschäftigungen handelte. Die auf diese Weise im Territorium „erfassten“ Arbeitskräfte reichten nicht aus. Weitere Dienstverpflichtete – überwiegend Mädchen – kamen aus dem Rheinland und dem annektierten Österreich (der Ostmark). Grüneberg war viel zu klein, um alle unterbringen. So mussten Quartiere in nördlichen Gemeinden gesucht und zugewiesen werden, von Löwenberg bis Lindow und Rheinsberg, Gransee und Fürstenberg, Zehdenick und Templin und in dazwischenliegenden Ortschaften. Das SS-Kommando Ravensbrück lieferte aus dem Konzentrationslager Frauen und Mädchen als Arbeitssklaven gegen eine geringe Mietgebühr. Für sie entstand dicht neben dem Bahnhof ein besonderes Baracken-“Außenlager“. Die von „Aufseherinnen“ (in SS-Kostümen, mit griffbereiter Pistole, einigen Hunden und Hundepeitschen „ausgerüsteten“ Flintenweiber) streng bewachten Unglücklichen schufteten in einem besonderen Betriebsteil, der von anderen Arbeitsplätzen hermetisch abgeschlossen war. (Quelle: Mitteilungen von Emma und Erwin Wiese, Neulöwenberg, Ella Thiede, Gransee, und andere Zwangsverpflichteten jener Zeit)
Hierzu kamen zwangsverpflichtete Polen und – nach dem Überfall in die Sowjetunion – verschleppte „Ostarbeiter“, die im Löwenberger Schloss untergebracht wurden. Die Gesamtzahl der Beschäftigten stieg auf 4650. (Quelle: Karl Gransee, Grüneberg, Stellungnahme zum Arbeitsentwurf mit Ergänzungen, 1973)
Bei zehn- bis elfstündiger Arbeitszeit im Schichtbetrieb erhielten die deutschen „Normalarbeiterinnen“ einen Wochenlohn von durchschnittlich 23,- RM netto.
(Quelle: Mitteilungen von Emma und Erwin Wiese, Neulöwenberg, Ella Thiede, Gransee, und andere Zwangsverpflichteten jener Zeit)
Erhebliche Zeiten beanspruchten bei „Auswärtigen“ die täglichen Fahrten und Fußwege zwischen Wohnstatt und Fabrik. Die Wartezeiten verlängerten sich; denn im Laufe der Kriegsjahre wurde der Zugverkehr durch Streckenüberlastung und schlechter werdender Betriebsmittel trotz zahlenmäßiger Verstärkung der Arbeitszüge immer unregelmäßiger. Die Zustände auf dem Grüneberger Bahnhof genügten dem Massenverkehr in keiner Weise. Die Reichsbahn ließ die Bahnsteige mit Teilüberdachungen versehen. Eine Untertunnelung der Gleise verkürzte die Verbindungswege zum Werk und ersparte Wartezeiten an der Bahnschranke. Den Bahnhofsschuppen von 1877 ersetzte ein Neubau mit Wartehalle und Stellwerk, denn der Rangierbetrieb hatte sich durch Erweiterung des Anschlussgleises zu einem Verladebahnhof bedeutend vermehrt.
Die Fabrik in Grüneberg blieb von Bombenangriffen verschont, obwohl anglo-amerikanische Flieger hunderte vieler kleinerer Objekte zerstörten (z.B. das „Auerwerk“ in Oranienburg), Züge der Nordbahn angriffen (am 21.05.1944 einen Personenzug zwischen Löwenberg und Gutengermendorf) und noch im April 1945 bei Löwenberg Luftminen warfen.
Die Grüneberger Arbeiter nahmen im Sommer 1945 in eigener Regie wieder eine Friedensproduktion auf, nachdem die sowjetische Kommandantur ihre Zustimmung gegeben hatte. Sie reparierten Landmaschinen und stellten aus vorhandenen Restmaterialien Gebrauchsgegenstände her, mit denen sie u.a. im März/April 1946 auf der „Landwirtschafts- und Industrie-Ausstellung-Gransee“ („LIAG“) vertreten waren.
Doch gehörte die Grüneberger Fabrik nun einmal zu den führenden Rüstungsbetrieben des Nazireiches, die nach den Festlegungen des Potsdamer Abkommens zu demontieren waren. Dementsprechend wurde sie von Maschinen und Ausrüstungen geräumt, wurden die Hauptanlagen im Sommer 1946 gesprengt. Nur die Gebäude des „Erbhofes“ und einige Reste der alten Anlagen blieben erhalten.
Nun befand sich in Gransee unter den Betrieben, die wegen des Bombenterrors aus Berlin geflüchtet waren, der Teilbetrieb einer Berlin-Reinickendorfer Spirituosenfabrik Hermann Meyer („Keine Feier ohne Meyer!“). Er war in der Granseer Konservenfabrik eines Dr. Uhlmann untergebracht. Dessen Sohn wollte sich selbständig machen und gründete mit einigen Fachleuten eine eigene Schnapsfabrik „Uhlen-Spirituosen“.
Bild 30: Briefkuvert der Fa. Hermann Meyer / Eigenarchiv
Für drei Betriebe war das Gebäude der Konservenfabrik viel zu klein. „Meyer“ sollte weichen. Die SMAD (Sowjetische Militär-Administration in Deutschland) hatte aber großes Interesse an der Erhaltung von Arbeitsplätzen und wies deshalb der Betriebsleitung den Grüneberger „Erbhof“ als neues Quartier und Produktionsstätte zu. Der Umzug begann bereits im Sommer 1946. Einige Grüneberger erhielte wieder Arbeitsmöglichkeiten. Die Produktion lief gut an und erreichte 1947 eine Kapazität von 1 300 hl Spirituosen, 1 100 hl Wein und Sekt, je 500 t Marmelade und Obstpulpe, 70 t Obst- und Gemüsekonserven sowie Trockengemüse. (Quelle: Sabine Dölitzsch, „Die ökonomisch-geografische Struktur der Gemeinden Grüneberg und Falkenthal, Kreis Gransee - ein ökonomisch-geografischer Vergleich“; Staatsexamensarbeit 1965, Manuskript)
"Während der Durchführung des ersten Fünfjahrplanes (1951 -1955) kam es überall zu umfassenden Bereinigungen der Produktionsbereiche mit dem Ziel, unrentable Anlagen zu schließen, um in besser geeigneten Betrieben durch Spezialisierungen und Verbesserungen der Ausrüstungen die Arbeitsproduktivität erheblich zu steigern.
Über die Grüneberger Produktionsverhältnisse im Betriebszweig Obst- und Gemüsekonserven teilte der Betriebsveteran Karl Gransee aus Grüneberg mit: „dass es unsägliche Schwierigkeiten gab, die geforderten Mengen sowie eine gute Qualität der herzustellenden Erzeugnisse zu sichern.
Bild 31: Gruppe der Betriebsschlosser 1952 / Eigenarchiv
Mit dem damals zur Verfügung stehenden Fuhrpark und den völlig veralteten Fahrzeugen mussten die auf den Sammelstellen bereitgehaltenen Gemüsearten und Früchte abtransportiert werden, z.B. Äpfel, Kirschen und Erdbeeren aus Werder (Havel), Bohnen und Zwiebeln aus dem sächsischen Raum (Halle), Stachelbeeren und Johannisbeeren aus dem Raum Pritzwalk usw. Da die Erfassung und Lagerung sowie der Transport nicht so organisiert wie heute waren, kann man sich denken, dass die angelieferten Erzeugnisse an Qualität sehr zu wünschen übrigließen. Oft war es so, dass ein großer Teil der angelieferten Waren verworfen werden musste...“
(Quelle: Karl Gransee, Grüneberg, Stellungnahme zum Arbeitsentwurf mit Ergänzungen, 1973)
Aufgrund solcher Zustände entfiel in Grüneberg zuerst die Gemüsetrocknung, später die gesamte Konservenherstellung. Zu den innerbetrieblichen Erleichterungen der Umstellung gehörten der Fortfall von Saisonarbeitern und eine Vereinheitlichung der Lohntarife. Die zentralen Wirtschaftsorgane begannen ferner mit einer „Durchforstung“ der Wein- und Spirituosen-Hersteller. Unter ihnen gab es viele „Hinterstuben- oder „Waschküchenbetriebe“, deren „Markterzeugnisse“ den gewohnten Anforderungen nicht mehr genügten.
Bild 32: Betriebspost 1958 / Eigenarchiv
Bild 33: Grüneberger Präsentkarton / Eigenarchiv
Bild 34: Innendeckel des Präsentkartons / Eigenarchiv
Qualitätsverbesserungen wurden auch in Grüneberg das Hauptproblem. „Sein oder Nichtsein“ hieß es bei jeder staatlichen Gütekontrolle. Aber die Mehrzahl der Erzeugnisse konnte bestehen. Der Betrieb blieb erhalten, während „benachbarte“ Firmen, wie „Uhlen-Spirituosen“ in Gransee, „Starheimer“ in Neustadt/Dosse oder „Kogge“ in Neuruppin erloschen oder ihre Spirituosenproduktion einstellen mussten. Den Erfolg verdankten die Grüneberger Betriebsangehörigen letzten Endes sich selbst, ihrem Fleiß und ihrer Beharrlichkeit, mit denen sie weitergelernt und sich zu erstklassigen Fachkräften herangebildet hatten. Sie überwanden viele Schwierigkeiten, verbesserten ihre Produktion durch überlegte Neuerungen und konnten trotz einiger Misserfolge ihre Planziele erreichen und oft überbieten. In den Jahren von 1955 bis 1962 stieg die Spirituosenproduktion von 23 000 hl auf 34 000 hl, die Wein- und Sektherstellung von 4 500 auf 5 200 hl. „Nebenbei“ kamen 926 hl Süßmost und 1 144 hl alkoholfreier Getränke zur Auslieferung.
Der Name „Grüneberger“ gewann an Ruf und wurde zum Markenzeichen guter Erzeugnisse. Deshalb begannen die Mitarbeiter 1963 den Kampf um den Titel, der ihnen am 1. Mai 1964 erstmals verliehen wurde: „Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit“.
Bild 35: VEB Getränkekombinat Potsdam Werk V Grüneberg / Eigenarchiv
Bild 36: Betrieb der ausgezeichneten Qualität / Eigenarchiv
Bis 1970 fielen der „Branchenbereinigung“ die Süßmostproduktion und die Weinherstellung „zum Opfer“. Beides übernahm der „VEB Havelland“ in Beelitz.
Am 1. September 1975, zum 25. Jahrestag des Betriebes, konnte der Werkdirektor eine stolze Bilanz ziehen. Als selbständiger VEB mit 12 Betriebsteilen im VEB Getränkekombinat Potsdam verfügte er in jenem Jahr über ein Produktionsvolumen von
1 800 hl Rohspiritus (ausschließlich BT Putlitz)
110 000 hl Spirituosen
85 000 hl Flaschenbier (Abfüll-Linien)
115 000 hl alkoholfreier Getränke (alte Produktionsweise)
und einige kleinere Produkte.
492 Arbeitskräfte produzierten in allen Betriebsteilen einen Warenwert von 219 Millionen Mark. Den Ehrentitel verteidigte das Werk bereits neunmal (heute fünfzehnmal), und es errang auf z.T. internationalen Ausstellungen 14 Gold-, Silber- und Bronzemedaillen. Für einige Markenliköre ist der VEB Grüneberger in der DDR Alleinproduzent.
(Quelle: Werkdirektor Heinrich Lorenz, Festansprache zum 25. Jahrestag des Bestehens des VEB Grüneberger)
Die Betriebsanlagen in Grüneberg wurden erweitert, rationalisiert, die Arbeitsbedingungen erleichtert, die soziale und gesundheitliche Betreuung aller Mitarbeiter verbessert – es handelt sich um eine Vielzahl von Maßnahmen, deren Einzelaufzählung in diesem Rahmen unmöglich ist. Erwähnt sei nur noch, dass auch Löhne und Gehälter aller Beschäftigten laufend steigen. Die Betriebsentwicklung ging weiter. Ein Mangel unseres Kreises war die Versorgung mit alkoholfreien Getränken, allerdings nicht mengenmäßig, sondern qualitativ und sortengerecht.
Bild 37: VEB Grüneberger Spirituosenfabrik & Brennerei / Eigenarchiv
Bild 38: VEB Grüneberger / Eigenarchiv
Ihre Herstellung erfolgte bisher durchweg in Kleinbetrieben mit veralteten Anlagen und Abfüllungen auf längst ungebräuchliche Flaschen mit „Patentverschluss“. Nach der Beseitigung von Trümmern der einst gesprengten Halle entstand für viele Millionen Mark aus Investitionsmitteln eine neu Betriebsabteilung zur ausschließlichen Produktion von 7 – 8 Sorten alkoholfreier Getränke. Trotz einiger Schwierigkeiten, die sich beim Einfahren hochproduktiver Anlagen mit ausgeklügelten Sicherheitssystemen nie völlig vermeiden lassen, betrug der Produktionsausstoß des ersten vollen Betriebsjahres 1977 bereits 72 034 hl, das sind 21,6 Millionen Flaschen zu je 0,33 Liter. Ihre Absatzbereiche sind vorzüglich die Kreise Gransee und Oranienburg. Die Zahl der Betriebsbereiche sank auf drei: Grüneberg als Leitbetrieb, Oranienburg und Putlitz (Rohproduktion für Spiritus).
Bild 39: Briefkuvert von 1969 des VEB (B) Spirituosenkombinat Grüneberg Werk II Oranienburg / Eigenarchiv
So hat sich die Bedeutung der Fabrik in Grüneberg zugunsten der Friedensproduktion, zum Nutzen unseres Volkes gewandelt. Das Profitstreben kapitalistischer Ausbeuter ließ sie einst entstehen. Die in ihr während zweier Weltkriege produzierte Munition bzw. hergestellten Munitionsteile sollten erst dem kaiserlichen Imperialismus, dann der Hitlerdiktatur zur „Weltherrschaft“ verhelfen. Das eine wie das andere Regime gingen zugrunde. Die damals in Grüneberg erzeugten Produkte brachten Millionen unschuldiger Menschen den Tod oder machten sie zu Krüppeln. In unserer Deutschen Demokratischen Republik entstehen an gleicher Stelle Getränke zur Erfrischung und – in Maßen genossen – zur fröhlichen Belebung der Freizeit der Bürger.
Quelle: Die Geschichte der Grüneberger Fabrik“ aus: Eine Materialsammlung als Beitrag zur Geschichte der Stadt und des Bereiches Gransee“, Anlage 3, Nr. 7, unbekanntes Jahr
Bild 40: Gläser und Flaschen von Vivaris / Eigenarchiv
Bild 41: Truck von Vivaris / Eigenarchiv
Namen der Fabrik nach dem Krieg: 1948 hieß die Firma „Grüneberger Konserven- und Likörfabrik GmbH“. Etwa 1949/50 erfolgte die Umwandlung in „Grüneberger Konserven- und Likörfabrik VEB“, später in „Likörfabrik und Weinkelterei Grüneberg VEB“, in der Bevölkerung auch „Schnapsbude“ genannt, in der viele GrünebergerInnen arbeiteten.
Am 10.10.1990 wurde ein Film von Volker Koepp über die letzten Züge der Grüneberger Schnapsfabrik gedreht, siehe etwa letztes Drittel. (Über Grüneberg wird etwa ab der 33. Minute berichtet.)
https://www.youtube.com/watch?v=mbqBlU0amKo&ab_channel=musicman 05.02.2021
Heute kann man auf der Website der Firma Vivaris Grüneberg nachlesen:
„Vivaris: Experte für alkoholfreie Getränke – von Wasser bis koffeinhaltiger Limonade. Mit ganz verschiedenen Marken in vielfältigen Getränkekategorien ist Vivaris dabei Teil der Berentzen-Gruppe, die neben alkoholfreien Getränken auch Spirituosen und Frischsaftsysteme herstellt und vertreibt. … Am Standort Grüneberg in der Nähe von Berlin sind rund 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Eine ganz schöne Strecke von Haselünne bis Grüneberg – knapp 430 km. Doch genau das nutzt Vivaris, um den Nord-Osten Deutschlands möglichst umweltschonend und effektiv beliefern zu können. Auch in Grüneberg werden neben nationalen Produkten regionale Marken produziert.“
Quelle: https://www.vivaris.net/ 02.02.2022
Exkurs: Kriegsgefangene und ZwangsarbeiterInnen in Grüneberg - ein offenes Kapitel
Bild 42: Luftbild der US Air Force mit Zwangsarbeiterlager neben der Munitionsfabrik / Landesluftbildsammelstelle der Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg © GeoBasis-DE/LGB (1945) / dl-de/by-2.0
Dieser Abschnitt ist noch im Aufbau.
Es ist uns zwar ein Anliegen, uns auch mit den Zeugnissen und den Spuren der vielen OstarbeiterInnen im Löwenberger Land zu befassen, wünschenswert wäre, wenn andere Interessierte diesen Teil der Heimatgeschichte recherchieren würden? Diese Schicksale haben eigentlich die geringste Aufmerksamkeit, obwohl sie doch damals so präsent, bis hin in die Familien, waren. Aber sie haben keine Lobby.
Nur so viel in Kürze: Es gab noch vor dem KZ-Außenlager ein großes Zwangsarbeiterlager in Grüneberg hinter der Fabrik mit mehreren Baracken (später lange als Kindergarten genutzt, heute zum Teil abgerissen, zum anderen Teil Apartmentwohnungen).
Außerdem konnten Unterbringungen auch im sogenannten Schloss in Löwenberg und in einer Baracke am Neulöwenberger Bahnhof ausgemacht werden.
Bild 43: Ehemalige Baracke des Zwangsarbeiterlagers in Grüneberg (früher als Kindergarten genutzt) / Foto: B. Dietz
Bild 44: Ehemalige Baracke des Zwangsarbeiterlagers in Grüneberg / Foto: B. Dietz
Bild 45: Ehemalige Baracke am Bahnhof Neulöwenberg / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Bild 46: Postkarte vom Löwenberger Schloss - genutzt als Unterkunft für ZwangsarbeiterInnen / Eigenarchiv
Bild 47: Rückseite der Postkarte, die mit einem Gruß nach Österreich geschickt wurde
Frauen, Männer und Kinder aus dem Osten mussten – unter falschen Versprechungen geworben oder von Anfang an gezwungen – für die Deutschen arbeiten: Für das Munitionswerk Grüneberg, auf Bauernhöfen im Ort, in Geschäften und kleinen Betrieben u.a. Die Kinder durften nicht zur Schule gehen. Darüber gibt es ein Grüneberger Zeugnis. Auch gibt es wenige Namen von und einige dokumentierte Zeitzeugnisse über Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die in Grüneberg arbeiten mussten. Wir würden die Zeugnisse gern anderen Forschenden für weitergehende Recherchen zur Verfügung stellen oder eine wissenschaftliche Arbeit mentorieren, damit auch dieses Kapitel der Heimatgeschichte aufgearbeitet werden kann. Das Dokumentationszentrum der NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide ist dafür ein zuverlässiger erster Ansprechpartner.
Exkurs: Die Frau als Arbeitskraft
Nach nationalsozialistischer Ideologie gehörte die Frau an den Herd und hatte Soldaten großzuziehen. Im Fall von Arbeitskräftemangel wird sie aber als Arbeitskraft, noch dazu als billige und verfügbare Arbeitskraft, interessant. An der sogenannten Heimatfront leistet sie die direkte Zuarbeit zur Tätigkeit der männlichen Familienangehörigen an der Front: „Frauen schaffen für euch. (Nur für den Versand ins Feld)“.
Bild 48: Rückseite der Postkarte - Nur für den Versand ins Feld / Eigenarchiv
Bild 49: Postkarte "Frauen schaffen für euch" in der Munitionsfabrik / Eigenarchiv
Die Themen zur Rolle der Frau im Nationalsozialismus oder zur Rolle der Frau im Krieg sind hinlänglich wissenschaftlich erforscht. Hier sei lediglich ein kurzer Abschnitt aus den Hamburger Historischen Blättern zitiert, um einen visuellen Eindruck des Inneren einer Munitionsfabrik zu bekommen. (Quelle: Hamburg Archiv, Archiv Verlag Braunschweig, erschienen als Loseblattsammlung im Abonnement, Kapitel 11 Nationalsozialismus und Krieg, Seite 11043a, ohne Angabe Autorenschaft und Jahr):
„Schon 1936 hatte ein hoher Beamter aus dem Reichskriegsministerium wissen lassen, die Frau werde im Ernstfall im größeren Umfang als bisher die Arbeit in den Fabriken leisten müssen.
Bild 50: Granatendreherinnen in der Munitionsfabrik Krümmel / Hamburg Archiv, Archiv Verlag Braunschweig
Auch hier, so wurde mit großem Nachdruck und bewusst auf propagandistische Wirkung gerichtete Ziele hervorgehoben, hätten sich die sozialen Bestrebungen der NSDAP – die Frauen gern auf die Rolle der Hausfrauen und Mütter reduzieren wollte – den militärischen Erfordernissen unterzuordnen.
Ein Jahr später verbreitete das Institut für Konjunkturforschung in Berlin, in der Industrie fehle eine halbe Million Arbeitskräfte, und es sein deshalb erforderlich, Frauen stärker als bisher in den Arbeitsprozess zu integrieren. Damit war der Boden vorbereitet, die im arbeitsfähigen Alter stehenden weiblichen Bevölkerungsteile gegebenenfalls auch zwangszuverpflichten.
Im Jahr des Kriegsausbruchs 1939 waren 37 Prozent aller Erwerbstätigen Frauen. Die Frauen hatten von Anfang an als ‚Reservearmee‘ gegolten, auf der die gesamte Wirtschaftsplanung des Reichs aufgebaut war.
Um dem Mangel an Arbeitskräften abzuhelfen, ließ man wissen, müsse versucht werden, ‚Frauen, die normalerweise Reproduktionsaufgaben erfüllen‘ – so technokratisch war das Gebären und Betreuen von Kindern in nationalsozialistischer Zeit umschrieben – vorzeitig dazu zu bewegen, in die Produktion zu gehen beziehungsweise dorthin zurückzukehren.
Die Nationalsozialisten zögerten zunächst jedoch noch, Frauen durch entsprechende Verordnungen offen zwangszuverpflichten. Da aber das Freiwilligen-Angebot nicht reichte, verfügte der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz 1943 eine sogenannte Meldepflichtverordnung. Danach mussten sich alle Frauen zwischen 17 und 45 Jahren auf ihre Eignung zur Kriegswirtschaft prüfen lassen. Die Folge war, dass Ende Mai 1943 über 80 000 Hamburgerinnen erfasst waren. Etwa jede dritte von ihnen wurde vermittelt. Die Statistik meldet, dass in der zweiten Jahreshälfte 1943 schon 10 300 Hamburgerinnen in der Rüstungsindustrie arbeiteten. Ein großer Teil davon war in der Munitionsfabrik Krümmel, die ein paar Kilometer östlich Hamburgs nahe Geesthacht an der Ostelbe liegt.
Die Munitionsfabrik, nicht weit von dem vielgenutzten Naherholungsgebiet Sachsenwald gelegen, war schon 1865 als ‚Alfred Nobel & Co.‘ in das Hamburger Handelsregister eingetragen worden. Zuvor war dem Unternehmer Nobel, der Schweden in jenem Jahr verlassen hatte, ‚nach hierüber eingezogenen Berichten des Gerichts Gülzow und des Landphysikus Dr. Völckers hierdurch die Erlaubnis einer chemischen Fabrik behufs Herstellung des Sprengöls, Nitro-Glycerin genannt, auf dem Krümmel im Gute Gülzow … erteilt.‘“
(Quelle: Hamburg Archiv, Archiv Verlag Braunschweig, erschienen als Loseblattsammlung im Abonnement, Kapitel 11 Nationalsozialismus und Krieg, Seite 11043a, ohne Angabe Autorenschaft und Jahr)
Anmerkung: Zeitgeschichtliche Fotografien, die Embleme des Dritten Reiches zeigen, dienen der Information und Aufklärung über die damaligen Ereignisse.
Stand: Oktober 2022