Der Bahnhof
Der Bahnhof und die Gleisanlagen
Der Bahnhof und das Gleis mit seinen Anlagen spielte in unserem Zusammenhang eine große Rolle, lagen doch Munitionsfabrik und Barackenlager einander fast gegenüber, nur getrennt durch das Gleisbett. Direkt gegenüber dem Lager stand das sogenannte Verwaltungsgebäude, in dem sich in der oberen Etage die Wohnung des Betriebsdirektors befand. Die Fenster der Wohnung wiesen in drei Richtungen, von denen Herr Schelenz weiträumig auf das Fabrikgelände, aber auch direkt auf das Gelände des Lagers schauen konnte. Ihm blieb nichts verborgen, was dort auf dem Appellplatz geschah. Unterhalb dieser Fenster befanden sich die Pforte und das Haupttor der Munitionsfabrik, durch das alle Arbeitskräfte, auch die Häftlingskolonnen, kontrolliert das Fabrikgelände betraten oder verließen.
Bild 1: Luftbild aus dem Jahr 1995 mit den vollständigen Gebäuden des Bahnhofs / Privatbesitz: anonym
In der Munitionsfabrik arbeiteten gezwungenermaßen täglich mehrere hundert Häftlinge in zwei Schichten. Bevor das Lager bezugsfertig war, kamen die Häftlinge mit dem Zug aus Ravensbrück, Bahnhof Fürstenberg.
„Jede der Frauen, die für den Transport in die Fabriken eingeschrieben waren, tat ihr Bestes, um Ravensbrück nicht zu verlassen. Aber das war alles vergeblich. Am 5. September 1943 begannen wir in Grüneberg zu arbeiten, ein paar Dutzend Kilometer von Ravensbrück entfernt, pendelte man zu Beginn mit einem Güterzug. Es waren 500 von uns. Dies dauerte über einen Monat. Wir lebten alle in einem Wohnblock und waren völlig vom Rest des Lagers getrennt. Sie weckten uns um 3 Uhr morgens auf.“
Jozefa Konarska, Lundprotokoll
Auch später wurden immer wieder Häftlingsgruppen mit der Bahn nach Grüneberg überstellt.
Und nicht zuletzt darf man davon ausgehen, dass aus unterschiedlichen Gründen auch das weibliche Wachpersonal zwischen dem Stamm- und Außenlager hin und herfuhr. Ebenso ist davon auszugehen, dass die Zugverbindung nach Grüneberg genutzt wurde, um die Wachmänner aus dem KZ Sachsenhausen bei Oranienburg vor Ort zu bringen, befanden sich doch die Bahnhöfe nur drei (heute zwei) Stationen voneinander entfernt.
Die Munitionsfabrik hatte ein eigenes Gleis für den Antransport von Koks und Kohle für das Heizwerk und den Abtransport der Rüstungsprodukte. Möglicherweise wurden die Waggons in Löwenberg/Mark, heute Neulöwenberg, rangiert, denn dort gab es damals große Anlagen dafür.
In Hoch-Zeiten arbeiteten in der Fabrik täglich 4500 Menschen. Die wenigsten von ihnen kamen aus Grüneberg, der größere Teil kam aus der näheren und weiteren Umgebung mit dem Zug. Ein Anwohner erzählt:
„Sechzehn Uhr zwanzig war im Metallbetrieb Feierabend. Da kamen die Massen an hier. In Richtung Neuruppin, Herzberg/Reinsberg, Gransee/Fürstenberg und nach Templin. Die Züge wurden vorher hier reingefahren, und dann die Leute rein und ein Zug nach dem andern fuhr los, in vier Richtungen. Das waren ja Hunderte auf dem Bahnsteig, da war schon was los gewesen! Und da haben die Geschäfte in der Nordbahnstraße aufgemacht, die haben alle davon gelebt: Lebensmittel, Bäckerei, Kantine, Friseur.“
E.L. aus Grüneberg
Berührungen
Da der Fußweg der Häftlingskolonnen vom Lager am Bahndamm entlang über die Schranke und auf der anderen Seite wiederum am Bahndamm entlang zur Fabrik führte, ergab sich beim Warten an der geschlossenen Schranke immer wieder Nähe zu Passanten. Allerdings galt grundsätzlich die Order, dass man von der Straße wegbleiben solle, wenn eine Kolonne sich näherte. Das konnte jedoch nicht immer befolgt werden, wie die folgende Erzählung einer Einwohnerin zeigt:
„Was mir dazu einfällt, sind schockierende Erlebnisse. Ich bin einmal eines Abends von der Bahn gekommen und der Zug von den Zwangsarbeitern, den KZ-Leuten, zog an mir vorbei. Ich war vielleicht sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahre alt. Ich weiß nur, dass mich das ganz doll erschreckt, mich nachdenklich gemacht hat, wie das überhaupt möglich ist … Die hatten alle so verschlossene Gesichter, gar keine jungen Züge. Ich habe diese Menge Leute wie eine graue Masse empfunden. Eine unendlich traurige Masse zog an mir vorbei. Ich weiß noch, ich bin vom Rad abgestiegen, kurz vor dem Bahnhof. Und dann kamen die rummarschiert, kamen von der Fabrik und liefen zu ihrer Baracke. Das waren vielleicht fünfzig, achtzig Frauen, eine graue Masse von Frauen mit Kopftüchern und ganz grauen Gesichtern, die Kleidung grau und grau. Man hatte nur einen schrecklichen Anblick. Genau hingucken war mir nicht möglich, weil ich so erschrocken war."
D.H. aus Grüneberg
Eine Szene an der Schranke ist in einem privaten Film damals festgehalten worden. Man sieht, wie die Kolonne die Nordbahnstraße heraufkommt und an der Schranke einbiegen will. Ein Radfahrer tritt rasch in die Pedale und auch eine Passantin wechselt noch schnell die Straßenseite. Im Hintergrund auf den Gleisen steht einer der Personenzüge für die ArbeiterInnen, man sieht das Gasthaus an der Ecke und das Bahnhofsgebäude im Hintergrund, alles passiert mitten im Alltag.
Eine Grünebergerin erzählt, wie sie als Kind von 10 Jahren folgendes beobachtete:
„Ich habe noch genau vor Augen, wie die Frauen kurz vor dem Wartehäuschen vorbeikamen, aber wie sie nicht im Gleichschritt gingen, und da haben sie mit der Peitsche zwischen die Beine geschlagen und da mussten sie erst noch eine Weile im Gleichschritt trampeln, wie bei der Armee, bevor sie dann weiterlaufen mussten. Ich fand es furchtbar, wie man andere Menschen so schlagen kann.“
I.P. aus Grüneberg
Zur Nachtschicht wurde ihr Weg mit großen Scheinwerfern ausgeleuchtet.
Die Kolonen wurden immer mit lauten Schreirufen und mit Peitschenschlägen zur Eile angetrieben „Schnell, schnell, schnell“, um die Häftlinge damit unter Kontrolle zu behalten. In der Filmszene springt eine Aufseherin die Böschung des Bahndamms hinauf, um die Kolonne besser im Blick zu haben. Gerade in diesen Situationen am Biegen am Bahndamm um 180 Grad hatten man Angst vor Ausbrüchen, wie es eine Augenzeugin berichtet. Da rannte eine Häftlingsfrau in der Kurve geradeaus weiter. Man fing sie wieder ein und massakrierte sie anschließend im Lager.
Auf den Bahnsteigen und im Zug gab es auch Nähe zu Aufseherinnen, die durch ihre schwarzen Uniformen als solche erkennbar waren. Auch da ergaben sich Kontakte und man kam miteinander ins Gespräch.
Bild 2: Häftlingskolonne am Bahnhof / Screenshot einer Filmaufnahme von H. Förster 1943-45 Grüneberg
Bisher gehen wir davon aus, dass die Aufseherinnen nicht jeden Tag nach Ravensbrück fuhren, sondern in der Baracke rechts vor dem Lagertor untergebracht waren, die noch bis 1996 stand.
Entlang der Nordbahnstraße hatten sich mit der Inbetriebnahme des Rüstungsbetriebes mehrere Geschäfte angesiedelt, unter anderem die Bäckerei Plessow, die täglich 600 Brote für das Außenlager buk. Dafür wurden ihnen zwei Kriegsgefangene zugeteilt. In einem anderen der Läden beobachtete jemand:
„Ich habe das im Laden mitgekriegt, wenn die Kolonne wieder ankam und durch den Tunnel wollte. Dann sagte mal jemand: ‚Ach, jetzt kommen die, da können wir gar nicht raus.‘ Da hat man gewartet. Es durfte auch keiner in den Tunnel, wenn die kamen … Die Häftlinge hatten gestreifte Kleidung an und ihre Holzpantinen. Das waren junge und alte Frauen, kräftig sahen die nicht aus. Manche haben sich untergehakt. Wenn mal eine kurz vor dem Fallen war, ist sie festgehalten worden. Und die sind auch ziemlich schnell vorbeigegangen. Man durfte sich ja nicht draußen hinstellen und gucken, das war ja alles verboten. Ich hab sie nur vom Laden aus gesehen. Die sind zügig vorbeigegangen und dann durch den Tunnel durch … Das waren immer so 70, 80, vielleicht auch 100 Frauen. Sie liefen in Viererreihen, und vier Frauen Aufpasser mit Schäferhunden, hinten, vorn und an den Seiten.“
E.L. aus Grüneberg
Exkurs: Die Geschichte der Bahnstation Grüneberg
1875 begann der Bau der Eisenbahnlinie Berlin – Stralsund. Am 10.07.1877 wurde die Nordbahn (Streckenabschnitt: Berlin Gesundbrunnen – Neubrandenburg) eröffnet. Vom Gesundbrunnen waren es 40,76 km bis nach Grüneberg. Grüneberg erhielt 1877 einen Bahnhof. 1903/04 erhielt der Haltepunkt des Ortes nach dem zweigleisigen Ausbau der Nordbahn eine Güterabfertigung. Um 1914 bekam die Grüneberger Fabrik ein Anschlussgleis zur Nordbahn.
1938 wurde ein neuer Bahnhof gebaut. Das Bahnhofsgebäude von 1877 wurde als Schuppen genutzt. Jetzt wurde ein Gebäude errichtet mit Wartehalle und Stellwerk, denn der Rangierbetrieb hatte sich durch Erweiterung des Anschlussgleises zu einem Verladebahnhof erhöht.
Bild 3: Postkarte vom alten Bahnhof / Eigenarchiv
Es existieren Entwurfszeichnungen von 1935 und Bauausführungszeichnungen vom 25.11.1937. 1940 und 1941 wurde der Bahnhof mit einer Bahnhofsüberdachung und einem Tunnel erweitert.
Bild 4: Zeichnung der Bahnsteigüberdachung mit Tunneleingang / Quelle: Entwurfs- und Ausführungszeichnungen des Bahnhofs von den Eigentümern des Bahnhofsgebäudes
Exkurs: Bauen im Nationalsozialismus
Im Gegensatz zur modernen Architektur des Bauhauses und seiner Vertreter des Neuen Bauens forderte das NS-Regime im Sinne der Ideologie einer Volksgemeinschaft eine volkstümliche, traditionsgebundene Architektur. Sie sollte bodenständig und traditionsgebunden sein, landschafts- und handwerksgebunden.
Ebenso war künstlerische Ausschmückung im Sinne der NS-Ideologie ein wichtiger Bestandteil dieser Forderungen. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Josef Goebbels, äußerte sich in diesem Sinne auch zu den Bauten der Reichsbahn. „In einem Rundschreiben vom 22. Mai 1934 stellte er fest, dass die Gebäude und Wartesäle der Reichsbahn ein »trostloser Anblick« seien. Weiter forderte er »hauptsächlich Bildhauer und Kunsthandwerker«, aber auch Maler, zur Neugestaltung heranzuziehen. Zahlreiche Altbauten wurden daraufhin mit Fresken bemalt, die Warte- und Restaurationsräume mit Malereien und rustikalem Interieur neu gestaltet, Bahnsteigüberdachungen, simple Anbauten aus groben Steinbossen oder Natursteingliederungen verändern den Eindruck beim Verlassen der Züge.“
Bild 5: Postkarte - Bildmitte: Seiteneingang des Bahnhofs und Straße zur Munitionsfabrik / Eigenarchiv
Beim Grüneberger Bahnhofsgebäude handelt es sich um eine beispielhaft zu nennende Umsetzung dieses Gedankengutes. Sowohl vom Baukörper her als auch durch die größtenteils erhaltene Innenausstattung sind alle Merkmale der Bauzeit noch sehr gut erhalten:
Das Gebäude - außen:
Am Giebel gab es ursprünglich noch die typische Bahnhofsuhr. Den Eingang bildet eine Vorlaube mit Bruchsteinpfeiler mit in Putz betontem Gewölbe. Die flachen Bögen über den Öffnungen sind ebenfalls deutliche Merkmale der NS-Zeit. Das Satteldach mit Gauben entsprachen den Forderungen der NS-Ideologen nach dem Steildach in heimatlicher Bauweise. Das Gebäude ist verputzt, für den Sockel- und Kellerlichtschachtbereich wurden Klinker verwendet.
Bild 6: Ansicht der Giebelseite des Bahnhofs / Quelle: Entwurfs- und Ausführungszeichnungen des Bahnhofs von den Eigentümern des Bahnhofsgebäudes
Bild 7: Postkarte mit Giebelseite des Bahnhofs / Eigenarchiv
Das Gebäude - innen:
Die Schalterhalle war mit einer umlaufenden Bank versehen, die noch original erhalten ist. Bänke, das gemeinsame Sitzen nebeneinander, waren und sind bis heute gemeinschaftsfördernd, das war gewünscht. Der Fußboden wurde mit Klinkerplatten versehen. Zwei Tischablagen auf kurzen Pfeilern stehen zwischen den Schaltern. Die Holzbalkendecke wurde, wenn man die Bauzeichnung richtig deutet, unterhalb der Betondecke als Dekoration angebracht, um den gewünschten Heimatlook zu erreichen. Der Durchgang zur Bahnhofsüberdachung wird überbrückt durch eine Konstruktion aus Holzbalken, die mit Sinnsprüchen, „Eile mit Weile" für den Abreisenden und „Erst besinn's, dann beginn's“ für den Ankommenden versehen sind. Des Weiteren mit einem mäanderartigen Muster, wie es anderswo gern mit sich darin ergebenden Hakenkreuzen zu sehen ist.
Bild 8: Deckenbalken mit Inschrift: "Eile mit Weile" / Foto: B. Dietz
Bild 9: Deckenbalken mit Inschrift: "Erst besinn's, dann beginn's" / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Die große Fensterfront in der Schalterhalle ist mit einer Bleiverglasung versehen, die einen Spruch von Goethe 1825 wiedergibt:
„Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde, unsere guten
Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das Ihrige tun.“
Bild 10: Fensterfront in der Wartehalle mit teilweise erhaltenem Schriftzug / Foto: B. Dietz
Bild 11: Teil der Fensterfront / Foto: B. Dietz
So kann man auch Goethe missbrauchen: Während der die überfällige Überwindung der damaligen deutschen Kleinstaaterei meinte, hatten die Nazis etwas ganz anderes im Auge, nämlich die Erweiterung des Deutschen Reiches, das ja durchaus geeint war, um angrenzende Territorien mit deutsch Sprechenden oder deren Minderheiten wie Österreich, Tschechoslowakei, den polnischen Korridor und andere Teile Polens, perspektivisch auch bis weit nach Russland und die Ukraine hinein.
Die vorgeschriebene Schrifttype der NS-Zeit war die Frakturschrift, entsprechend sind alle Schriftzüge in dieser Type ausgeführt. Die typischen Merkmale aus der NS-Zeit sind noch immer sichtbar.
Bild 12: Verborgene Wandbemalungen / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Bild 13: Eine der Gepäckablagen vor den Schaltern / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Bild 14: Gleistechnische Einbauten im unteren 2. Keller / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Heute
Tunnel und Überdachungen wurden abgerissen und das Bahnhofsgebäude an private Besitzer verkauft.
Die Bahnstation wurde zu einem Haltepunkt zurückgebaut.
Das Gebäude wurde in der Denkmalliste erfasst.
Im Inneren finden sich noch historische Spuren, die wir fotografieren durften.
Bild 15: Eingang zum Bunker im oberen Keller / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Bild 16: Luftdicht verschließbare Bunkertür im Keller / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Bild 17: QR-Code ein hinterlegtes Audio gibt Informationen zum Außenlager Grüneberg
An drei Seiten des Gebäudes durften wir in Absprache mit den Bahnhofsbesitzern Infotafeln mit einem QR-Code anbringen.
Bild 18: Fensterfront mit Plakaten "Außenlager des Frauen-KZs Ravensbrück" / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Bild 19: Fenster mit Plakaten / Foto: Ruth-Barbara Schlenker
Autorenschaft: Die Einführung dieses Kapitels wurde von Ruth-Barbara Schlenker verfasst. Die zitierten Zeitzeuginnen und -zeugen sind bekannt. Den Exkurs schrieb Bärbel Dietz. Sie verwendete dabei einen Aufsatz von Reinhard Plewe aus Prenzlau. R. Plewe ist Architekt und hat sich auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück große Verdienste um den behutsamen Aus- und Umbau der Aufseherinnenhäuser erworben. Er ist besonders mit der Bauweise der verschiedenen Baracken vertraut.
Quellen:
Aufsatz von Architekt a.D. Reinhard Plewe/Prenzlau, Der Grüneberger Bahnhof - ein typischer NS-Bau, Mai 2018 Eigenarchiv Plewe_Bahnhof
Polnisches Quelleninstitut Lund: Häftlingsprotokolle
Aussagen von Grüneberger Zeitzeugen/innen
Stand: Oktober 2022